2. Prozesstag: Selbstleseverfahren als Mittel der Verschleierung der Realität

Der 2. Prozesstag im 129 b Verfahren gegen den kurdischen Politiker und Aktivisten Ali Ihsan Kitay vor dem OLG Hamburg – Selbstleseverfahren als Mittel der Verschleierung der Realität.

Der zweite Prozesstag begann mit der Verlesung der Passagen aus Prozessakten, die die 5 RichterInnen des Staatsschutzsenats beabsichtigen im Selbstleseverfahren einzuführen. Deutlich wurde, dass dies sämtliche politischen- und Waffenstillstandserklärungen der kurdischen Bewegung – sowie deren Bewertung durch Beamten des Bundeskriminalamts (BKA) betrifft. Mehr als 200 Dokumente der PKK, den Volksverteidigungskräften HPG und weiterer Organisationen und Personen, die die Bundesanwaltschaft (BAW) der PKK zuordnet, sollen „selbstgelesen“ werden.

Was bedeutet Selbstleseverfahren?

Das Gericht gibt der BAW, der Verteidigung und dem Beschuldigten Teile der Akten zum Lesen. Daraufhin werden diese so behandelt, als wären sie in der Verhandlung vorgelesen und diskutiert worden – und werden somit als Teil des Prozesses gewertet.

Das Einführen der Beweismittel, auf die die Anklage gestützt ist, im Selbstleseverfahren, bedeutet faktisch einen Ausschluss der Öffentlichkeit vom Verständnis des Gesamtkontextes der Anklage und der Prozessführung und eine starke Verkürzung der inhaltlichen Auseinandersetzung mit dem Thema des Prozesses. „Der Verteidigung wird eines der bedeutsamsten Verteidigungsmittel genommen, nämlich die Möglichkeit zu einer unmittelbaren Stellungnahme zu einzelnen Beweismitteln“, erklärte der Verteidiger von Ali Ihsan Kitay, Carsten Gericke. Die Verteidigung legte deshalb Widerspruch ein. Ein beabsichtigtes Selbstleseverfahren hätte zudem weit früher als am ersten Verhandlungstag angekündigt werden müssen – ansonsten handele es sich im juristischen Sinne um ein „grob ermessensfehlerhaftes“ Vorgehen.

In den „selbst zu lesenden“ Dokumenten befinden sich zudem viele Kommentare und Bewertungen, also Wahrnehmungen der auswertenden Polizeibeamten, erklärte die Verteidigung. Solche Wahrnehmungen dürften laut geltender Rechtsprechung – und auch entsprechend bisheriger Rechtsprechung des OLG Hamburg, nicht durch bloße Verlesung von Vermerken und daher auch nicht im Selbstleseverfahren eingeführt werden. Negative Folgen einer solchen Vorgehensweise würden sich insbesondere in Urteilsbegründungen zu vorangegangenen § 129-Verfahren gegen kurdische AktivistInnen zeigen. In diesen befänden sich immer wieder die gleichen Satzbausteine, die lediglich die Einschätzungen der Polizeibeamten, nicht jedoch den sachlich und juristisch korrekt abgewogenen Inhalt der Dokumente widerspiegeln.

Darüber hinaus kritisierte die Verteidigung, dass das Gericht Übersetzungen, die der Verfassungsschutz und das Bundeskriminalamt (BKA) in Auftrag gegeben haben, die ebenfalls im Selbstleseverfahren eingeführt werden sollen, nicht auf Richtigkeit überprüfen lassen habe. Bereits im Vorfeld des Verfahrens (im Vorverfahren) habe sich gezeigt, dass einige dieser Übersetzungen grob fehlerhaft waren, so Rechtsanwalt Gericke. Eine Überprüfung sei gerade deshalb notwendig und wäre nach der Einführung im Selbstleseverfahren nicht mehr möglich, da die übersetzten Dokumente dann als Bestandteil des Prozesses gelten. Die RichterInnen entschieden die Widerspruchsfrist gegen das Selbstleseverfahren in solch großem Umfang bis Dienstag nächster Woche zu verlängern, um nicht „grob ermessensfehlerhaft“ vorzugehen.

Durch ein derart weitgehendes Selbstleseverfahren von Dokumenten können dann gerade in politischen Prozessen Schilderungen der Beamten der „Sicherheitsorgane“, die oft stunden- oder auch tagelang als Zeugen befragt werden und ihre einseitigen, oft wenig hintergründigen und unreflektierten, auf reiner Verfolgungslogik basierenden, Erkenntnisse im Sinne einer Feindbildzuschreibung gegenüber der beschuldigten Organisation oder Person die im Gericht erzeugte Stimmung dominieren. Die Beschuldigten werden dann erfahrungsgemäß wie z.B. bei Aktenzeichen XY ungelöst, als dunkler und bösartiger – und zu verurteilender – Einbruch in die heile Welt von einer völlig intakten Gesellschaft mit intakten internationalen Beziehungen, dargestellt und gebrandmarkt. Auch tagelanges Vorlesen von Ermittlungsergebnissen und Untersuchungsbeschlüssen vermittelt häufig einen solchen Eindruck.

Der eigentliche Konflikt, der bezüglich des jetzigen Prozesses in der politischen Erklärung Ali Ihsan Kitays und den ersten Anträgen der Verteidigung deutlich wurde, würde bei einer solchen Prozessführung, so befürchten ProzessbeobachterInnen, nur wenig verhandelt. Die Legitimität des Widerstandes der kurdischen Bevölkerung und Bewegung gegen Unterdrückung, gravierende Menschenrechtsverletzungen, Folter und Kriegsverberchen seitens staatlicher Kräfte in der Türkei – sowie das Anrecht auf Selbstbestimmung, kulturelle Rechte und der Kampf um demokratische und emanzipierte Gesellschaften – sollte aber ein zentraler Bestandteil der Verhandlung sein – damit es nicht dazu kommt, dass das Handeln eines Menschen, wie seitens der BAW geschehen weitgehend ohne Betrachtung gesellschaftlicher Realitäten und politischer Entwicklungen in der Türkei als terroristisch definiert und kriminalisiert wird.

Daher wird sich unter anderem an der Entscheidung des OLG zur Frage des Selbstleseverfahrens zeigen, in wie weit es den RichterInnen um ein sachliches und juristisch ausgewogenes Erörtern eines Konfliktes – in diesem Fall der kurdischen Frage und deren internationalen Auswirkungen – geht.

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