Der 14. Prozesstag – Völkerrecht oder politische Willkür?

Am Montag, den 13. August hat vor dem Oberlandesgericht (OLG) Hamburg das Verfahren gegen den kurdischen Politiker und Aktivisten Ali Ihsan Kitay begonnen. Die Bundesanwaltschaft (BAW) wirft dem 47 jährigen Kurden vor, dass er als Kader der PKK in den Jahren 2007 und 2008 die Region Hamburg geleitet haben soll. Straftaten in Deutschland werden ihm wie auch weiteren 5 gemäß § 129 b StGB angeklagten Kurden nicht vorgeworfen. Das Verfahren ist bis Ende Dezember auf mehr als 30 Prozesstage terminiert.

Am 14. Prozesstag stellte die Verteidigung des kurdischen Politikers drei Anträge.

    1. Das Gericht soll einen sachverständigen Gutachter zur Erläuterung völkerrechtlicher Aspekte sowie zur Erörterung des Widerstandsrechts der kurdischen Bewegung und der PKK hinzuziehen. Dem Völkerrecht zufolge ist der Widerstand der PKK im Rahmen einer militärischen Auseinandersetzung gegen anhaltendes Unrecht, Menschenrechtsverletzungen, Kriegsverbrechen und systematischer Polizei- und Militärgewalt gegen die kurdische Bevölkerung legitim – und nicht als Terrorismus zu werten. Dem humanitären Völkerrecht (dem 1, Zusatzabkommen zur Genfer Konvention ZB 1 aus dem Jahr 1977) zufolge genießen die Guerilla der PKK einen Combatantenstatus. Die Guerilla der PKK habe militärische Strukturen und vertrete einen großen Teil der kurdischen Bevölkerung in der Türkei. Das heißt, dass deren militärische Aktionen im Rahmen des lang anhaltenden Konflikts auch als solche und nicht als Straftat zu werten sind, so die Verteidigung.
      Durch die koloniale Grenzziehung im Jahr 1916 sei den KurdInnen das völkerrechtlich garantierte Recht auf Selbstbestimmung weitgehend entzogen worden. Im Vertrag von Sevres 1921 hat die Türkei der kurdischen Bevölkerung noch das Entscheidungsrecht über eine Autonomie eingeräumt, dieses wurde ihr jedoch durch den Vertrag von Lausanne 1924 entzogen. Die PKK begreift ihr Handeln als Widerstand gegen die Nichtanerkennung des Selbstbestimmungsrechts und nimmt immer wieder positiv Bezug auf die UN Konventionen. Mit dem Konzept des „Demokratischen Kornföderalismus“, der Gründung des Demokratischen Gesellschaftskongresses DTK 2008 in der Türkei und den Volksräten 2012 in Syrien, habe die kurdische Bewegung Strukturen zur Umsetzung einer Autonomie – ähnlich wie in Schottland oder im Nordirak – ohne Angriff auf die Souveränität der jeweiligen Staaten geschaffen.
      Die notwendige Abwägung dieser völkerrechtlichen Aspekte, hätten weder der Bundesgerichtshof BGH bei seiner Entscheidung über die Ermächtigung zur Verfolgung gemäß § 129 b, noch die Bundesanwaltschaft (BAW) in der Anklagebegründung und weiteren Eingaben an das OLG Hamburg berücksichtigt – bzw. juristisch korrekt gesehen und dargestellt. Der BGH habe u.a. ein Urteil von 1965 zur Begründung der Verfolgung gemäß § 129 b herangezogen. Zu diesem Zeitpunkt habe allerdings das Völkerrecht den Combatantenstatus nicht gekannt – dieser wurde erst mit dem Aufkeimen der Befreiungsbewegungen 1977 etabliert (s.o.). Die BRD hat das entsprechende Zusatzprotokoll im Jahr 1991 ratifiziert.
      Militärische Gefechte dürfen zudem nicht als Anschläge gewertet werden, wie die BAW dies tut, deren gesamte Interpretation völkerrechtswidrig ist. Bewaffnete Aktionen der PKK müssten u.a. auch im Zusammenhang mit den Kriegsverbrechen der türkischen Armee gesehen werden, da sie in vielen Fällen als Reaktion darauf durchgeführt wurden. Die BAW habe in ihren Wertungen und der Einschätzung, die PKK begehe hauptsächlich Anschläge und fordere noch immer einen eigenen Staat, mehr die eigene politische Meinung vertreten, als eine juristische Auffassung mit Realitätsbezug. Oft seien die Ausführungen der BAW schlicht faktisch falsch.
      Eine eigentliche Entscheidung über die Legitimität des Widerstands der PKK obliege ohnehin nur dem Bundesverfassungsgericht.
      Als mögliche Gutachter wurden von der Verteidigung der Völkerrechtler Prof. Dr. Norman Paech sowie Prof. Michael Bode benannt.
    2. Das Gericht solle das Waffenstillstandsabkommen der PKK aus dem Jahr 1999 und eine Erklärung des Europaparlaments von 1993 im Prozess berücksichtigen, um das Ursache-Wirkungsverhältnis der legitimen Selbstverteidigung der PKK und die Umorientierung der Organisation – vom Ziel der Erlangung eines eigenen Staates zum Ziel der Entwicklung von autonomen Regionen im Rahmen des „Demokratischen Konföderalismus“ innerhalb der Türkei nachvollziehen zu können. Von 1999 bis 2004 (und bis heute immer wieder) hatte die PKK einen Waffenstillstand eingehalten. Dem Waffenstillstand von 1999 waren 1 ½ jährige Gespräche zwischen dem türkischen Militär und Abdullah Öcalan vorausgegangen. Der Waffenstillstand war eine der Forderungen zur Fortsetzung des Dialogs und vermeintlichen Einleitung eines Friedensprozesses. Die türkische Regierung und Armee betrieben jedoch weiterhin den militärischen Konflikt.
      Das europäische Parlament hatte die Türkei schon 1993 aufgefordert endlich die Menschenrechte einzuhalten, Folter zu bekämpfen und einen Dialog mit der PKK über eine friedlich Lösung der kurdischen Frage zu suchen. Schockiert hat sich das Parlament über Kriegsverbrechen der türkischen Armee geäußert, zitierte die Verteidigung.
    3. Das Gericht soll eine sachverständige Gutachterin zur anhaltenden und wieder zunehmenden systematischen Folterpraxis in der Türkei hinzuziehen.
      Seit mehr als 30 Jahren wird in der Türkei systematisch gefoltert. Die Täter bleiben bis heute straflos. Detailliert legten die AnwältInnen Kitays, Conny Ganten Lange und Carsten Gericke, anhand von ca. 100 Einzelfällen, die anhaltende systematische Folterpraxis türkischer Sicherheitskräfte dar. Diese hat sich lediglich in den angewandten Methoden verändert – heutzutage werden meist Methoden bevorzugt, die keine sichtbaren Spuren hinterlassen. Zudem wird zunehmend auch außerhalb von Polizeistationen und ohne folgende Festnahmen oder Dokumentation der Festnahmen gefoltert.
      Folter, Misshandlungen und Vergewaltigungen werden systematisch gegen Männer, Frauen und Kinder – insbesondere gegen KurdInnen und kurdische AktivistInnen – angewandt, um Geständnisse zu erpressen und Menschen zu bedrohen. Die türkischen Gerichte verurteilen zumeist anhand dieser erfolterten Geständnisse. Die TäterInnen bleiben zu 99% straflos, da eine Vetternwirtschaft zwischen Sicherheitskräften, Staatsanwaltschaften und den Gerichten besteht. Diese Tatsachen werden gleichsam in Berichten von Amnesty International, den Menschenrechtsvereinen IHD und TIHV, Gerichtsurteilen deutscher Verwaltungsgerichte und Oberverwaltungsgerichte, Erklärungen der Europäischen Kommission und Zeitungsberichten beschrieben und kritisiert.
      Die unterschiedlichen Methoden der Folter, Schläge, Falaka, Hodenquetschen, sexuelle Belästigung, Vergewaltigung, Augenverbinden, psychische Folter, Schlafentzug, Scheinhinrichtungen bis hin zu extralegalen Hinrichtungen wurden in den ca. 100 Einzelbeispielen aus den letzten 10 Jahren deutlich, die die Verteidigung anhand der Berichte, Artikel und Anzeigen zitierte. In extra dafür eigerichteten Zentren werden die „Folterer“ dazu ausgebildet, war den Berichten zu entnehmen. Die Systematik der Folter wird dabei genauso unisono kritisiert, wie die Straflosigkeit der Täter. Auch Kinder und Jugendliche werden in den letzten Jahren immer häufiger gefoltert. So z.b. im Verlauf und nach einer Vielzahl von Demonstrationen oder auch im Gefängnis von Pozanti – in dem mehr als 20 Kinder über einen langen Zeitraum systematisch von Wärtern und erwachsenen Gefangenen misshandelt und vergewaltigt wurden. Zitiert wurde auch Ministerpräsident Erdogan, der in einem Interview behauptete, dass in der Türkei nicht mehr gefoltert werde. Selbst der Menschenrechtsbeauftragte der türkischen Regierung erkennt dagegen die anhaltende Folter in der Türkei als Problem.
      U.a. Amnesty International, die türkischen Menschenrechtsvereine IHD und TIHV, Human Rights Wacht, die Oberverwaltungsgerichte sowie die Europäische Kommission kritisieren dagegen, dass Folter in den letzten Jahren erneut zugenommen hat und juristische Reformen zur Verhinderung von Folter und Menschenrechtsverletzungen entweder nicht eingehalten – oder revidiert wurden.
      Seit 2009 wurden zudem immer mehr Menschen, insbesondere von Sondereinheiten der Polizei und Jandarma – oft auch im Rahmen von Razzien oder Demonstrationen – zu Tode gefoltert. Darunter mehrere Mitglieder der DTP/BDP, Zeitungsausträger und der 17 jährige Ibrahim Atabay, der in Van Caldiran gemeinsam mit zwei weiteren Jugendlichen im Jahr 2009, nach einer Razzia in einem Dorf, mehrere Stunden von Sondereinheiten in einer Schlucht gefoltert und dann durch mehrere Schüsse getötete wurde.
      Als Sachverständige zu diesem Thema benannte die Verteidigung Anke D. Schnur, die bereits als Gutachterin für Amnesty International und eine Vielzahl von Oberverwaltungs-gerichten tätig war.

Das Bündnis Freiheit für Ali Ihsan fordert – dem Prozessverlauf entsprechend – die sofortige Freilassung von Ali Ihsan Kitay. Verantwortlich für Leid und Unrecht sind nicht diejenigen, die wie Ali Ihsan Kitay und die 5 weiteren von § 129 b Verfahren betroffenen KurdInnen, die Menschenrechte verteidigen, sondern vielmehr die Folterer und Kriegstreiber, die seit Jahren eine friedliche Lösung der kurdischen Frage verhindern.

Freiheit für Ali Ihsan Kitay und alle politischen Gefangenen!
Frieden in Kurdistan!

 

Dieser Beitrag wurde unter Prozessberichte abgelegt und mit , , verschlagwortet. Setze ein Lesezeichen auf den Permalink.