OLG Stuttgart: Verfahrenseröffnung nach § 129b StGB gegen Ridvan Ö. und Mehmet A.

Nicht nur in Hamburg werden kurdische Aktivist_innen kriminalisiert. Am 13. September beginnt in Stuttgart das Verfahren gegen Ridvan Ö. und Mehmet A..

Der Rechtshilfefonds Azadî e.V. hat hierzu eine Presseerklärung herausgegeben, die hier auch als .pdf herunter geladen werden kann: PE+Prozess+Stuttgart

OLG Stuttgart: Verfahrenseröffnung nach § 129b StGB gegen Ridvan Ö. und Mehmet A.

Am 13. September beginnt vor dem 6. Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts (OLG) Stuttgart das Hauptverfahren gegen die kurdischen Aktivisten Ridvan Ö. und Mehmet A.
Die Bundesanwaltschaft beschuldigt Beide der Mitgliedschaft in der „terroristischen“ ausländischen Vereinigung PKK (§ 129b Abs. 1 und § 129a Abs. 1 Strafgesetzbuch). Sie sollen sich im Zeitraum von März 2010 bis Juli 2011 bzw. von Oktober 2009 bis Juli 2011 im Bundesgebiet bzw. in Frankreich als Führungskader der Jugendorganisation „Komalen Ciwan“ (KC) betätigt haben. Diese wiederum unterstehe dem von der PKK ins Leben gerufenen System der „Vereinigten Gemeinschaften Kurdistans“ (KCK) und sei der Europaorganisation gegenüber rechenschaftspflichtig.

Darüber hinaus vertritt die BAW die These, dass die seit 2004 bestehende Stadtguerilla
„Freiheitsfalken Kurdistans“ (TAK) der PKK zuzurechnen sei, obwohl es seitdem gegenseitig eindeutige Distanzierungserklärungen gibt, die wiederum von den deutschen – wie türkischen – Behörden als taktisches Vorgehen uminterpretiert werden.
Den angeklagten Kurden wird vorgeworfen, Spendengelder für die Organisation gesammelt, Nachwuchs für die Guerilla und den Funktionärsapparat rekrutiert, öffentlichkeitswirksame Demonstrationen, Schulungsveranstaltungen und Aktionen durchgeführt sowie Reisen von Kadern organisiert zu haben.

Beschuldigungen, wonach Ridvan Ö. und Mehmet A. als mutmaßliche Mitglieder einer Vereinigung im Ausland dort möglicherweise Straftaten begangen hätten, gibt es nicht. Muss es im Sinne des § 129b auch nicht, weil jedes tatsächliche oder mutmaßliche Mitglied einer als terroristisch eingestuften Organisation automatisch für deren gesamten Aktivitäten mitverantwortlich gemacht wird.

Der 1982 in Bingöl geborene Ridvan Ö. ist, nachdem die politische Verfolgungssituation gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei eskalierte, im September 2001 nach Italien geflüchtet und dort als politischer Flüchtling anerkannt worden. Im Juni 2011 hat er Rom verlassen und ist dann nach Basel gereist und später nach Hamburg.
Ridvan Ö. wurde am 17. Juli 2011 am Flughafen Düsseldorf festgenommen; seit dem 18. Juli befindet er sich in Untersuchungshaft.

Die Ermächtigung zur strafrechtlichen Verfolgung nach § 129b StGB erteilte das
Bundesjustizministerium am 1. April 2011.

Mehmet A. reiste im November 2000 mit seinen Eltern und zwei Schwestern aus der Türkei in die BRD ein. Sein Asylantrag wurde ein Jahr später abgelehnt. Nach einem Klageverfahren hat das damalige Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Ende 2001 die Voraussetzungen für ein Abschiebeverbot aus Gründen der politischen Verfolgung anerkannt und Anfang 2002 erhielt Mehmet A. Reiseausweis und Aufenthaltsbefugnis.

Im Juni 2006 dann widerrief das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seinen Asylstatus wegen Unterstützung der PKK und weil ihm in der Türkei angeblich keine politische Verfolgung mehr drohe.
Klagen hiergegen blieben erfolglos, eine Zulassung auf Berufung für einen erneuten Antrag auf Flüchtlingszuerkennung wurde abgelehnt und im August 2010 die sofort vollziehbare Ausweisung durch das zuständige Regierungspräsidium verfügt. Auch hiergegen ist Klage erhoben worden.

Mehmet A. wurde am 17. Juli 2011 in Freiburg festgenommen und befindet sich seit dem 18. Juli in Untersuchungshaft. In seinem Fall hat das Bundesjustizministerium die Ermächtigung zur Strafverfolgung nach § 129b am 12. Mai 2011 erteilt.
Die historischen Fakten und politischen Hintergründe des türkisch-kurdischen Konflikts werden vonseiten der Anklage völlig ausgeblendet. Sie sind jedoch die Grundlagen, um zu einer realistischen Einschätzung und Bewertung der kurdischen Bewegung und der in ihr organisierten Aktivistinnen und Aktivisten zu gelangen. Das Gericht wird nicht umhin können, sich mit zentralen Fragen des (Kriegs)Völkerrechts und dem Recht auf Sezession im Sinne einer neueren völkerrechtlichen Entwicklung auseinanderzusetzen. Hierbei muss die über Jahrzehnte durch massive Repression geprägte Menschenrechtslage der kurdischen Bevölkerung innerhalb und außerhalb der türkischen Institutionen aufgeklärt und beurteilt werden. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Verteidigung auch die Verfassungsmäßigkeit der Verfolgungsermächtigung durch das Bundesjustizministerium
nach § 129b StGB in Frage stellen und prüfen lassen wird.

Donnerstag, 13. September 2012, Beginn: 9.15 Uhr im Mehrzweckgebäude des OLG, Asperger Straße 49, Stuttgart-Stammheim

Verhandelt wird jeweils donnerstags und freitags: Verhandlungstermine sind bis Ende des Jahres geplant.

Hintergrund

Seit 2007 hat die türkische Regierung die Repression gegen die kurdische Bewegung in der Türkei auf allen Ebenen verstärkt. Folter und extralegale Hinrichtungen gegen Zivilpersonen haben besonders in den letzten drei Jahren zugenommen (1555 angezeigte Fälle von Folter im Jahr 2011); fast jeden Tag finden Militäroperationen in der Türkei und sogar völkerrechtswidrig im Nordirak statt.

Seit den Kommunalwahlen 2009 ließ die Regierungspartei AKP mehr als 8000 kurdische
PolitikerInnen und AktivistInnen im Rahmen der „KCK-Verfahren“ inhaftieren. Darunter 6 ParlamentarierInnen der pro-kurdischen Demokratischen Friedenspartei BDP, 33 BürgermeisterInnen, über 1000 Frauenaktivistinnen und mehr als 100 JournalistInnen. Gleichzeitig kam es zu Massakern an der Zivilbevölkerung: Im Jahr 2010 wurden bei Hakkari Gecitli 9 Menschen bei einem Anschlag von Sondereinheiten des Militärs getötet – 2011 starben bei einem in vollem Bewusstsein auf Zivilisten durchgeführten Bombardement 34 Menschen in Uludere/Roboskî. Weitere Kriegsverbrechen seitens
der türkischen Armee aus der Zeit zwischen 2002 und 2011, brachten im November 2011 Angehörige von Opfern und AnwältInnen in der Bundesrepublik, gemäß Völkerstrafgesetzbuch in einer Anzeige gegen Ministerpräsident Erdogan und die letzten drei Generalstabschefs vor Gericht.

Bis 2011 hatte es zwar Gespräche von Regierungsvertretern mit VertreterInnen der PKK in Oslo und mit Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali (der eine Roadmap für den Frieden vorgelegt hatte) mit konkreten Ergebnissen gegeben. Diese wurden jedoch abgebrochen. Die AKP-Regierung wollte letztlich nicht hinnehmen, dass sie die Kontrolle über die kurdischen Provinzen des Landes auf politischem Weg nicht erlangen kann. Die kurdische Bewegung ist dort sehr gut in der Bevölkerung verankert. Mit dem Konzept der Demokratischen Autonomie wurden große Teile der Menschen politisiert und von der BDP in die Gestaltung der Gesellschaft einbezogen. Seit 2007, als der AKP
bewusst wurde, dass diese Entwicklung nicht mehr umkehrbar ist, begann sie schrittweise mit der gewalttätigen Eskalation des Konflikts.

Der politische Hintergrund der Kriminalisierung mehrerer Kurdinnen gemäß § 129 b in der Bundesrepublik ist deutlich. Es geht im gesamten Mittleren Osten um den Zugang zu Öl und Gasressourcen und die Absicherung der Transportwege. Die Türkei – mit der zweitgrößten NATO-Armee – wird als Bündnispartner und zukünftige Energiedrehscheibe gesehen, die islamisch-autoritäre AKP-Regierung unter Erdogan als demokratisch orientiert verklärt und als bestes Rollenmodell für die gesamte Region definiert. Emanzipatorische und vor allem gut organisierte basisdemokratische
Kräfte, die in der Bevölkerung verankert sind, wie die kurdische Bewegung und die PKK, sollen in einer strategisch wichtigen Region gerade im Hinblick auf die neokoloniale Neuaufteilung des Mittleren Ostens offenbar nicht geduldet werden.
Weil die Bundesregierung eine hauptsächlich auf Profit orientierte Außen- und Sicherheitspolitik betreibt, wird auch in der Bundesrepublik erneut mit erweiterter Repression gegen kurdische Aktivistinnen und Aktivisten vorgegangen. In diesem Rahmen wird der kurdischen Bewegung und der kurdischen Bevölkerung das Widerstandsrecht – gegen lang anhaltendes Unrecht, dokumentierte
permanente Menschenrechtsverletzungen und den staatlichen Versuch der Vernichtung
selbstbestimmter Kultur – aberkannt. Obwohl die PKK seit mehr als 10 Jahren auf einen
Friedensprozess orientiert, wird ihr Widerstand im Gegensatz zu den o.g. Beispielen aus rein geostrategischen Motiven als terroristisch definiert.

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